Der Zuckerberg

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Der Zuckerberg

Es war einmal eine Familie, die zwei Kinder hatte. Diese hießen Michael und Johanna. Die beiden naschten gerne, doch ihre Eltern hatten stets zu wenig Süßes daheim. Das ärgerte die Kleinen sehr und sie sagten immer wieder: „Ach, gäbe es so viel Süßigkeiten bei uns zu Hause wie bei den Nachbarskindern!“ Doch die Mutter schimpfte: „Wir haben nicht viel Geld und müssen es für etwas Wichtigeres ausgeben als für Naschereien. Das ist ja auch nicht gesund!“ Eines Tages, als die Kinder im Wald spazieren gingen, sahen sie einen Jungen, der sie freundlich grüßte und sie fragte, wieso sie so ein mürrisches Gesicht machten. Da antwortete Michael: „Wir hätten gern so viel zu naschen wie die Kinder in der Nachbarschaft, doch bei uns daheim gibt es kaum etwas.“ „Dann geht doch einfach zum Zuckerberg, dort gibt es mehr als genug zu naschen!“, antwortete der unbekannte Junge. „Zuckerberg? Wo ist denn der? Und kann man von dem essen?“, fragte Michael neugierig.

Der andere Junge lachte und antwortete: „Nein! In diesem Berg bauen Zwerge Zucker ab und in ihm ist so viel davon, dass hunderttausend Menschen ein ganzes Leben lang jeden Tag hundert Kuchen essen könnten! Im Osten des Waldes fließt ein Bach, wenn ihr den entlanggeht und bergauf wandert, kommt ihr zu einem bewaldeten Hügel mit Kegelform, das ist der Zuckerberg. Doch vor ihm fließt der Bach, über den keine Brücke führt. Wenn ihr aber sagt: ‚Komm, du Brücke, ganz ohne Tücke und ohne Lücke für die Zuckerstücke!‘, dann wird für zehn Sekunden eine Brücke entstehen, die ihr rasch überqueren müsst!“ Die Geschwister bedankten sich und Michael wollte zum besagten Zuckerberg gehen. Doch Johanna sagte, dass es spät werden würde und sie lieber nach Hause zurückkehren sollten.

Als sie daheim waren, fragte Johanna die Mutter, die das Essen zubereitete: „Wieso hast du uns nie vom Zuckerberg erzählt? Du kennst ihn doch bestimmt!“ „Was? Welcher Berg?“, fragte die Mutter überrascht. „Na, der Zuckerberg. Darin bauen die Zwerge Zucker ab!“ „Unsinn! Wo habt ihr denn das her?“, wollte die Mutter wissen. Da sagte Michael: „Von einem Jungen im Wald! Der hat uns gesagt, dass es in diesem Berg so viel Zucker gibt, dass hunderttausend Leute jeden Tag reichlich naschen könnten!“ „Kinder, ihr glaubt wohl jedem! So etwas gibt es doch gar nicht! Man kann keinen Zucker in einem Berg abbauen!“ Doch Michael erwiderte: „Im Salzkammergut wird auch Salz aus den Bergen gewonnen!“ „Ja, Salz, aber Zucker kann man nicht in Bergen abbauen!“ Da waren die Kinder enttäuscht. Es vergingen ein paar Tage und aus Neugierde stellten sich die beiden die Frage, ob es denn den Zuckerberg wirklich geben könnte. Daher gingen sie an einem sonnigen Tag den besagten Bach entlang und das enge Tälchen bergauf.

Da erblickten sie den Zuckerberg und wollten den Bach überqueren. Doch da fiel den beiden der Spruch nicht mehr ein. Sie rätselten eine Zeit lang, bis Michael sagte: „Für die Zuckerstücke ohne Lücke und ohne Tücke komme die Brücke!“ Da erschien sie tatsächlich und die beiden wollten sie schnell überqueren, aber da sie Löcher hatte, blieb Johanna mit einem Fuß stecken. Ihr Bruder riss sie noch gerade mit sich, bevor die Brücke wieder verschwand. Der Schuh war aber im Loch stecken geblieben und löste sich mit der Brücke in Luft auf. Die Kinder standen erschrocken am Bach, den sie noch rechtzeitig überquert hatten. Michael klagte: „Ach, ich habe den Spruch falsch gesagt! Ich hätte sagen müssen, dass die Brücke ohne Lücke und Tücke kommen soll, nicht die Zuckerstücke!“ Dann sprach er: „Aber besser den Schuh verlieren als sein Leben.“ Seine Schwester nickte bejahend und die Kinder gingen zu einem höhlenartigen Eingang am Fuß des Zuckerbergs.

Als sie hineingehen wollten, kam ein Zwerg heraus, der fragte: „Was wollt ihr hier?“ „Dürfen wir in den Zuckerberg hinein? Wir würden so gern etwas Süßes essen!“, bat Michael. „Wer hineingehen will, darf nicht ohne Lehre heraus!“, antwortete der Zwerg und fragte: „Wollt ihr wirklich hinein?“ Da sagten die beiden Ja und der Zwerg gestattete es ihnen. Die Kinder eilten überglücklich hinein und fanden nach einer Weile Zwerge, die mit Mühe den Zucker abbauten. Diese sagten im Rhythmus:

„Ich bin ein Zwerg
vom Zuckerberg,
geh sogleich ans Werk,
wenn ich mich stärk
mit Zucker vom Berg
als fleißiger Zwerg!“

Da fragten die Kinder: „Dürfen wir etwas von dem Zucker essen?“ Doch einer der Zwerge antwortete streng: „Nein, hier arbeiten wir! Geht nur weiter, fragt die Zwerge, die die Süßigkeiten herstellen!“ Da freuten sich die Kinder und gingen weiter in den Berg hinein. Sie sahen viele Zwerge, die den Zucker abbauten, so wie es Bergleute in einem Kohlebergwerk tun. Immer wieder sprachen sie keuchend ihren Spruch.

Nach einer Weile gelangten die Kinder in einen Raum voller Süßigkeiten. Hier gab es Torten und Kuchen, Kekse und Krapfen, Knödel und andere Leckereien. Die Zwerge stellten sie hier her und nahmen dafür den Zucker, der im Berg abgebaut wurde. Sie sagten im Chor:

„Ich bin ein Zwerg
vom Zuckerberg,
all das Backwerk,
wie ich es vermerk
mit Zucker stärk
als fleißiger Zwerg!“

Die Kinder fragten, ob sie etwas essen dürften und einer der Zwerge sprach: „Nehmt! Und esst euch ja satt!“ Dann griffen die beiden zu und verschlangen so viel Süßigkeiten, da sie gar nicht genug bekamen. Nachdem sie eine Zeit lang genascht hatten, wurde ihnen schlecht. Da wollten sie nach Hause gehen, doch ein Zwerg sagte: „Ihr wolltet ja herein, jetzt müsst ihr noch ein Weilchen bleiben! Ruht euch aus und esst dann weiter!“ Die Kinder blieben und als sie nach ein paar Stunden wieder Hunger bekamen, aßen sie weiter. Doch nun schmeckten ihnen die Süßigkeiten nicht mehr so gut wie beim ersten Mal. Ihnen wurde bald wieder schlecht und Michael sprach: „Wir müssen zu unseren Eltern zurück!“ „Ihr bleibt hier! Schlaft da hinten in diesen zwei Bettchen! Ihr Kinder sollt euch noch für ein paar Tage gut ernähren, dann dürft ihr heim!“, erwiderte ein Zwerg. Die Kinder wollten gehen, doch es wurde ihnen nicht erlaubt. So legten sie sich schlafen. Am nächsten Morgen naschten sie wieder, doch sie hatten keine große Freude mehr dabei. Sie versuchten fortzulaufen, aber die Zwerge hinderten sie daran.

Die Kinder verbrachten noch weitere Tage im Berg und wurden schon langsam ein wenig rundlich. Das Essen schmeckte ihnen gar nicht mehr und ihnen war stets übel. Michael war aber klug und heckte einen Plan aus. Als alle Zwerge aßen, sagte er zu seiner Schwester: „Komm, lass uns fliehen! Jetzt sind sie nur mit Essen beschäftigt!“ Dann rannte er mit ihr hinaus, doch ein Zwerg hatte ihre Flucht bemerkt und die anderen darauf aufmerksam gemacht. Da sprangen viele Zwerge auf und folgten den beiden. Das bemerkten die Kinder und sie bekamen große Angst. Als sie den Berg verlassen hatten, liefen sie zum Bach. Da rätselten sie wieder, wie der Spruch lautete, damit die Brücke erscheine. Als sie so überlegten, kamen schon die Zwerge aus dem Berg heraus und sahen die Kinder. Da rief Michael erschrocken: „Ohne Lücke und ohne Tücke kommen die Zuckerstücke für die Brücke!“ Da er in der Angst nur Unsinn geredet hatte, erschien auch keine Brücke. Plötzlich stand da auf der anderen Seite des Baches der Junge, der den Kindern vom Zuckerberg erzählt hatte. Er rief: „Komm, du Brücke, ganz ohne Tücke und ohne Lücke, genug der Zuckerstücke!“

Da erschien die Brücke und die beiden liefen schnell darüber. Als die Zwerge am Bach ankamen, war die Brücke wieder verschwunden. Da rief einer von ihnen den Kindern zu: „Seht ihr! Wir haben euch eine Lehre erteilt! Bleibt nur zu hoffen, dass ihr daraus gelernt habt!“ Dann gingen sie wieder zurück. Da fragte Michael den unbekannten Jungen: „Wieso sind uns die Zwerge bis zum Bach gefolgt und lassen uns jetzt in Ruhe?“ Dieser antwortete: „Auf dieser Seite des Bachs haben sie überhaupt keine Macht mehr.“ „Wenn du wusstest, dass sie uns behalten wollen, warum hast du uns nicht gewarnt?“, fragte Michael. „Woher hätte ich das wissen sollen? Ich war nie im Zuckerberg, da ich mir ja nichts aus Süßigkeiten mache! Immerhin hab ich nur davon gehört! Seid froh, dass ich gerade zur Stelle war.“ Dann lief der Junge davon und auch die Kinder gingen nach Hause. Wie waren die Eltern froh, als sie sie wiedersahen, aber die Mutter fragte auch schroff: „Wo seid ihr nur gewesen? Was habt ihr angestellt?“ Michael antwortete: „Wir waren im Zuckerberg, aber haben gelernt. Zu viel Süßes zu essen macht keinen Spaß mehr und tut nicht gut!“

© Anders Baumgartner. Alle Rechte vorbehalten.