Die zwei Hirten

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Die zwei Hirten

Es war einmal ein Hirte, der musste im Sommer auf der Alm die Schafe hüten. Jedes Jahr, bevor der junge Hirte die Schafe hinauftrieb, sagte die alte Großmutter zu ihm: „Versprich mir erneut hoch und heilig, nicht zur Rostspitze zu gehen!“ Da sagte der Hirte: „Großmutter, jedes Jahr muss ich dir das versprechen. Ich weiß nicht, wieso.“ „Weil ich es so will. Da raufzugehen ist sehr gefährlich und schon so mancher hat sich da selbst überschätzt. Ich werde jetzt auf dein Versprechen warten.“ Widerwillig versprach es der Hirte ihr. Dann zog er mit den Schafen auf die Alm hinauf, worüber er sich sehr freute. Als er am nächsten Tag in der Wiese zwischen all den schönen Blumen saß, die in den Bergen wachsen, fiel ihm das Versprechen wieder ein. „Warum muss ich das jedes Jahr machen? Da gibt es schwierigere Gipfel, die ich auch erklimmen darf.“

Der Hirte hatte jeden Sommer das Versprechen eingehalten, aber dieses Jahr war es anders. Obwohl er so glücklich hier oben war, hatte er das Gefühl, als ob jemand auf ihn wartete. Der blaue Himmel verlockte ihn geradezu, zur Felswand zu gehen, bei der der Weg zur Rostspitze begann. Aufgrund seines Versprechens wollte er gar nicht weitergehen, doch da hörte er eine leise Stimme. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie wiederholte aber irgendeinen Satz immer wieder. Vor lauter Neugierde wäre er am liebsten weitergegangen, doch aufgrund seines Versprechens ging er zu den Schafen zurück. Dort lag er eine Weile, doch es ließ ihn nicht mehr los. Die Stimme hatte ihn derart neugierig gemacht, dass er noch einmal zur Felswand ging. „Ob ich sie noch einmal höre?“, fragte er sich. Und tatsächlich: die Stimme erklang noch einmal. So ging er noch ein Stückchen weiter, um zu verstehen, was sie sagte. Doch er verstand sie immer noch nicht. Daher ging er behutsam den Weg neben der Felswand entlang. Plötzlich hörte er eine ihm angenehme und freundliche Stimme: „Oh hilf mir! Hilf mir! Errett‘ mich von der Gier!“

Da erschrak der junge Hirte. „Wer kann denn das sein?“, fragte er sich. „Ich hab der Großmutter versprochen, nicht weiterzugehen, aber da braucht jemand meine Hilfe. Was soll ich tun?“ Er entschied sich aber dafür, weiterzugehen. Bald kam er an einem großen Felsblock vorbei. Da war der Ruf schon sehr laut zu hören: „Oh hilf mir! Hilf mir! Errett‘ mich von der Gier!“ „Wo bist du?“, fragte der Hirte. Da antwortete die Stimme: „Das Männlein hat’s genossen, mich im Stein eingeschlossen. Willst du mich sehen, musst auf den Stein du gehen.“ Der Hirte war sehr neugierig und kletterte auf den Felsblock. Ganz oben war eine kleine Öffnung, durch die er das Gesicht des Gefangenen sehen konnte. Dieser war jung und hatte große, traurige Augen. „Was tust du hier?“, fragte der Hirte. „Das Männlein tat’s mir an, darum ich nur reimen kann. Ich fand einst seinen Schatz, es verzauberte mich mit einem Satz.“ „Kann ich dir denn nicht helfen?“ „Findest du seinen Schatz wie ich, findest du meine Kappe sicherlich. Ist sie wieder auf meinem Haupt, ist das Männlein seiner Macht beraubt. Aber sehen darf es dich nicht, sonst bist du ein armer Wicht.“ „Dann sag mir noch, wo sein Schatz zu finden ist!“ „Das darf ich nicht sagen, mir würd’s die Sprache verschlagen.“

Der Hirte war nun ratlos und wusste nicht, was er machen sollte. Eigentlich hätte er zu den Schafen zurückmüssen. Doch der junge Mann im Felsblock tat ihm so leid, dass er ihm helfen wollte. „Wenn ich den Schatz sehe, so denke ich an dich!“ „Du wirst mich wohl vergessen, meine Hoffnung ist vermessen.“ „Nein, das werde ich nicht! Ich will es unbedingt versuchen!“ „Wünsch dir viel Glück, es ist ein hartes Stück!“ Als der Hirte wieder den Felsblock heruntergeklettert war, ging er noch ein Stückchen weiter in Richtung Gipfel. „Ich kann ihn nicht im Stich lassen!“ Er ging auf Geröll und Steinen noch ein Weilchen umher. Als es langsam Abend wurde, wollte er bald wieder umkehren, denn zum Gipfel traute er sich nicht mehr.

Plötzlich sah er eine Schlange zielgerade zu einem Loch in einem Stein kriechen. Als sie darin verschwunden war, hörte er ein gellendes Lachen, das aus dem Loch zu kommen schien. Er wunderte sich darüber sehr. „Was ist, wenn das das Männlein war?“ Er versteckte sich hinter einem Stein und wartete ein Weilchen. Dann hörte er wieder ein laues Lachen und gleich darauf kam die Schlange wieder aus dem Loch im Stein heraus, die pfeilgerade einen Hang hinunterkroch. Der Hirte eilte nun zum Loch und versuchte, hineinzublicken, doch es war stockfinster darin. Dann versuchte er, den Stein hochzuheben, doch das schien fast unmöglich zu sein. Er wollte sehen, ob in ihm ein Schatz war. Aber als er ihn mit viel Mühe etwas weggeschoben hatte, sah er eine Grube. Im Stein war bereits ein kleiner Gang gewesen, der in diese Grube führte.

Der Hirte nahm seinen ganzen Mut zusammen und stieg vorsichtig in die Grube hinab. Da fand er den besagten Schatz. Als er das Gold berührte, empfand er ein kurzes Brennen in den Fingern. Das verwunderte ihn und er wollte nach der Kappe suchen. Da das Gold brannte, nahm er ein Steinchen und wühlte damit im Schatz herum, bis er die Kappe des jungen Mannes fand, die ganz unten gewesen war. Er nahm sie und ging damit schnell zum Felsblock und freute sich schon darauf, den jungen Mann zu befreien. Er wollte ihm die Kappe bereits durch die Öffnung reichen, doch da ging ein heftiger Sturm los. Er brauste so stark, dass der Hirte auf dem Felsblock stürzte und die Kappe davonblies. Auch ein ungeheuerlicher Nebel kam auf, so dass er fast nichts mehr sehen konnte. „Wo ist die Kappe? Da hinten?“, fragte er sich erschrocken. Er versuchte vom Felsblock herunterzuklettern und zur Kappe zu gehen, die in der Felswand eingeklemmt war. Doch der Sturm wehte den Nebel immer wieder her, so dass er fast nichts mehr sah. Nur mit Mühe gelang es ihm, sie zu erreichen. Er steckte sie in die Hosentasche und kletterte erneut den Felsblock hinauf. Doch der Sturm wurde immer stärker und stärker. Der Hirte wollte nicht aufgeben, zu stark war der Drang in ihm, den Gefangenen zu befreien. So warf er mit größter Anstrengung die Kappe durch die Öffnung. Der Gefangene nahm sie und setzte sie sich auf.

Da hörte man einen lauten Schrei. Plötzlich endete der Sturm und auch der Nebel lichtete sich. Der Felsblock bekam Risse und löste sich auf. Der Befreite ging zum Hirten, der auf einem Stein stand, und sagte: „Ich danke dir von ganzem Herzen! Du hast mich noch gerade rechtzeitig erlöst. Jetzt, wo jemand es geschafft hat, dem bösen Männlein etwas zu nehmen, ist es besiegt worden. Hatte man etwas von seinem Gold genommen, so brannte es in den Fingern. Auch mir war es so ergangen und als ich eine Goldmünze in die Hosentasche steckte, schmerzte mir die Stelle wie Feuer. Ich plagte mich noch dumm mit dem Gold, da fand das Männlein heraus, dass ich es bestehlen wollte. Nur meine Kappe konntest du ohne Schmerzen berühren.“ Der andere sagte voll Freude: „Gern geschehen! Woher bist du eigentlich?“ „Ich bin ein Hirte und musste ganz in der Nähe Kühe hüten.“ „Ich bin auch ein Hirte und hüte Schafe.“ Da lachten sie und gingen zur Almwiese, die bald darauf in die Finsternis der Nacht getaucht wurde. Der einstige Gefangene war dem anderen Hirten ewig dankbar und die beiden ließen einander nicht mehr aus den Augen. Sie waren unzertrennlich geworden und teilten alles miteinander. Immerhin hatten die beiden auch so vieles gemeinsam. „Dann ist es so, wie es ist. Es hätte nicht anders sein sollen“, sagte auch die Großmutter. Der Schatz des Männleins war aber aufgrund des heftigen Sturms von Steinen verschüttet worden.

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