Die zwei Mägde

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Es war einmal ein Bauer, der hatte zwei Mägde. Die eine war fleißig und freundlich, die andere faul und hinterhältig. Die fleißige Magd musste für die faule alle Arbeit mitmachen. Diese tat aber stets so, als ob sie viel gearbeitet hätte. Dafür wurde sie sehr gelobt, aber die fleißige Magd wurde vom Bauern nicht sehr geschätzt. Eines Tages wurde die Mutter des Bauern krank und er litt großen Kummer. Da erzählte ihm seine Frau, dass ihre Mutter doch eine alte Wunderheilerin sei und bestimmt ein Heilmittel für seine Mutter habe. Daher rief der Bauer die faule Magd und sagte zu ihr: „Geh zu meiner Schwiegermutter, die einen Tag von hier entfernt lebt. Bitte sie um ein Heilmittel gegen das hohe Fieber meiner Mutter. Komm aber bald wieder zurück.“ Da er dachte, dass diese Magd fleißig sei, beauftragte er sie damit. Sie ging los, ließ sich aber viel Zeit und hielt oft Rast. Als sie abends an einem Wirtshaus vorbeikam, hörte sie laute Musik und viel Gelächter. Da bekam sie Lust hineinzugehen und betrat das Wirtshaus, in dem sie viel trank und auch übernachtete. Am nächsten Tag wollte sie nicht weitergehen und blieb in dem Dorf.

Als die Magd nach ein paar Tagen noch immer nicht zurückgekommen war, wurde der Bauer zornig und sagte: „Wo bleibt denn die fleißige Magd? Meine Mutter braucht ihre Medizin.“ Dann sprach die Bäuerin zu ihm: „Dann schick doch die andere Magd dorthin. Wenn sie zwei Tage fehlt, können wir das schon verkraften.“ „Nein“, erwiderte der Bauer, „wenn schon die Fleißige so lange braucht, dann wird die Faule noch länger fort sein. Die erste Magd wird schon bald wiederkommen.“ „Deine Mutter braucht aber bald eine Medizin, die Ärzte geben ihr nicht mehr viel Zeit.“ Da sagte die fleißige Magd zu ihm: „Bauer, lass mich die Arznei holen. Ich werde eilen wie der Wind.“ Er erlaubte es ihr und sie ging sofort los und wanderte schnellen Schrittes zur Schwiegermutter des Bauern. Dadurch kam sie sogar früher an und fragte die alte Frau, ob denn die andere Magd schon da gewesen sei. „Nein, niemand war bei mir“, antwortete sie. „Ich weiß nicht, wo sie abgeblieben ist. Sie hätte eine Arznei holen sollen“, sagte die Magd und erzählte ihr, woran die Mutter des Bauern litt. Die alte Frau hatte gleich die richtige Arznei bei der Hand, denn sie wusste sofort, was der Mutter des Bauern fehlte. Dann fragte sie: „Ist denn die andere Magd fleißig?“ „Sie lässt mich viel arbeiten und sagt dem Bauern dann, sie hätte es gemacht“ „Sieh her, da habe ich ein kleines Fläschchen, das mit dem Wasser der Wahrheit gefüllt ist. Du musst es in den Schnee schütten, der bald kommen wird. Wenn du dann sagst:

‚Wahrheit, zeige dich,
lass mich nicht im Stich!
Beweise, was wirklich ist,
auf dass man es nie vergisst!‘,

dann wird die Wahrheit offenbar werden.“ Die fleißige Magd bedankte sich und wollte gleich wieder nach Hause gehen, aber da es spätabends und kalt war, ließ die Schwiegermutter des Bauern sie nicht gehen. Sie sagte zur Magd: „Mein Kind, es wird doch gleich dunkel. Du bleibst die Nacht über hier. Gleich am frühen Morgen machst du dich auf den Weg, nachdem ich dir ein kleines Mahl zur Stärkung gemacht habe.“ Am nächsten Morgen aß die Magd zeitig ihr Frühstück und ging eilig los. Es wehte ein kalter Wind und die ersten Schneeflocken wehten über das Land. Als sie an dem Wirtshaus vorbeikam, in dem die andere Magd eingekehrt war, wollte sie nur schnell eine kleine Mahlzeit zu sich nehmen. Da sah sie die faule Magd an einem Tisch sitzen und ein Hühnchen essen. Da fragte die fleißige Magd: „Was tust du denn hier? Wieso warst du nicht bei der Schwiegermutter des Bauern?“ „Du bist ja auch hier! Du wolltest ja selber nur essen gehen! Ich habe auch Hunger!“, antwortete die andere frech. „Du hast deinen Auftrag nicht erfüllt. Ich habe hier die Arznei für die alte Frau. Damit wird sie wieder gesund.“

Dann bestellte sie sich eine warme Suppe und aß sie schnell. Die faule Magd ließ sich aber bei ihrem Mahl Zeit. Nachdem beide gegessen hatten, griff die faule Magd flink in die Tasche der anderen, ohne dass diese es sah. Sie nahm die Medizin heraus und ging dann schnell damit davon. Die fleißige Magd ging bald darauf auch los, doch als sie ein paar Minuten vom Wirtshaus entfernt in ihre Tasche griff, merkte sie, dass die Medizin gestohlen worden war. Sie eilte zum Wirtshaus zurück und fragte, ob jemand ihre Arznei gesehen habe. Da antworteten zwei, dass die andere Magd sie ihr aus der Tasche herausgenommen hatte. Erschrocken eilte sie nun davon, aber es dauerte eine Weile, bis sie die andere einholte. Dann stellte sie sie zur Rede und sprach: „Du hast mir die Arznei gestohlen!“ Diese wurde jedoch wütend und herrschte sie an. Als sie sich so stritten, riss die faule Magd der anderen die Schuhe von den Füßen und warf diese in den Bach. Sie sagte voll Zorn: „Jetzt werden wir sehen, wann du heimkommst!“ Dann rannte sie davon. Es war aber bereits recht viel Schnee gefallen. Die fleißige Magd ging barfuß durch den immer höher werdenden Schnee. Dann fiel ihr das Wasser der Wahrheit ein, schüttete es in den Schnee und sagte:

„Wahrheit, zeige dich,
lass mich nicht im Stich!
Beweise, was wirklich ist,
auf dass man es nie vergisst!“

Da lief ein Hund daher, riss der faulen Magd die Schuhe von den Füßen und zerbiss sie. Diese wurde darüber sehr wütend und winselte und jammerte, doch es half nichts. Bald sah der Bauer sie durch das verschneite Feld gehen. Sie rief ihm zu: „Bauer, entschuldige die Verspätung! Ich war bei deiner Schwiegermutter und hier ist die kostbare Medizin!“ Da freute sich der Bauer sehr und nahm die Arznei dankbar an. Doch da kam auch schon die andere Magd durch den Schnee gelaufen und rief: „Bauer, ich war bei deiner Schwiegermutter und habe die Arznei geholt!“ Da wurde der Bauer wütend und sagte: „Und warum hast dann nicht du die Medizin in der Hand? Du warst bloß faul und bist gar nicht zu meiner Schwiegermutter gegangen! Die andere Magd hat das getan! Schäm dich!“ Sie erwiderte: „Nein, Bauer! Ich habe das Heilmittel geholt! Die andere Magd ist so lange ausgeblieben, weil sie sich im Wirtshaus vergnügt hatte!“ Da mischte sich die faule Magd ein und schrie: „Nein, du warst im Wirtshaus! Du hast nur gefressen, viel getrunken und mit den jungen Männern getanzt! An die arme Mutter unseres Bauern hast du überhaupt nicht gedacht!“ Das verneinte die fleißige Magd und begann zu weinen. Da betrachtete der Bauer die Spuren der beiden Frauen im Schnee. Jene der faulen Magd waren kohlrabenschwarz, obwohl ihre Füße sauber waren. Die Spuren der fleißigen Magd blieben aber rein. Da wusste der Bauer, dass das ein Zeichen war. Er sprach: „Der Schnee hat uns die Wahrheit verraten.“ Er gab die Arznei seiner Mutter, die daraufhin bald wieder gesund wurde. Die faule Magd entließ er aber. Sie musste sich eine andere Arbeit suchen, bei der sie sehr viel zu tun hatte und wenig ruhen konnte. Die fleißige Magd durfte bleiben und der Bauer stellte eine weitere ein, die auch sehr arbeitsam war. So war die Arbeit gerecht aufgeteilt und keine von beiden hatte zu viel zu tun.

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