Der Zwerg im Himbeerstrauch

Ein Märchen von Anders Baumgartner

Der Zwerg im Himbeerstrauch

Es waren einmal drei Geschwister namens Matthias, Markus und Sarah. Sie lebten bei ihren Eltern in einem Haus am Rand des Ortes. Eines Tages schickten die beiden ihre drei Kinder zur Großmutter, die in einem Häuschen im Wald lebte. Diese freute sich sehr, denn sie liebte ihre Enkelkinder über alles. Als sie angekommen waren, tischte die Großmutter ihnen einen guten Braten auf. Nachdem sie gegessen hatten, sagte sie: „Nicht weit von meinem Häuschen entfernt gibt es in der Lichtung viele Himbeeren. Dort könnt ihr etwas naschen, wenn ihr wollt! Aber kommt in einer Stunde wieder zurück!“ Die drei Kinder ließen sich das nicht entgehen und eilten in die Lichtung. Dort trugen die Sträucher so viele Himbeeren, wie sie es nur selten gesehen hatten. Sie aßen und aßen, aber als Sarah von einem besonders großen Strauch eine Beere pflücken wollte, da kam ein Zwerg heraus, der schrie: „Halt! Von diesem hier kriegst du keine Himbeere!“ Da erschraken die Kinder sehr.

Der Zwerg hatte himbeerrote Backen, eine himbeerrote Mütze und trug Kleidung in der gleichen Farbe. „Es sei denn“, fuhr er fort, „du arbeitest ein Jahr lang für eine Himbeere.“ „Wieso sollte ich für eine Himbeere so lange arbeiten?“, fragte das Mädchen entrüstet. „Weil alle Himbeeren von diesem Strauch mir gehören. Und die sind besonders kostbar.“ „Was soll denn kostbarer an ihnen sein als an den anderen?“, fragte Matthias, der älteste der Brüder. Der Zwerg antwortete: „Meine Himbeeren haben viel Macht. Mehr sage ich euch nicht. Ihr werdet ja doch nicht für sie arbeiten, also braucht ihr nicht mehr zu wissen. Verschwindet!“ Die Kinder entfernten sich von ihm und gingen zu anderen Sträuchern, von denen sie Beeren aßen, bis sie satt waren. Dann gingen sie zum Häuschen zurück.

Am nächsten Tag kochte die Großmutter den Kindern einen köstlichen Brei, von dem sie nicht genug bekamen, weil er so gut schmeckte. Dann sagte die Großmutter: „Ich hätte noch gerne etwas Brei für euch gemacht, aber ich habe keinen Grieß mehr daheim. Also werde ich ins Dorf gehen, um welchen zu kaufen. Da werde ich erst in zwei Stunden zurück sein. Aber bleibt mir ja beim Haus! Versprecht mir das!“ Die Kinder versprachen es und die Großmutter zog sich ihre Schuhe an und ging los. Aber nur wenige Minuten, nachdem sie gegangen war, klopfte jemand an die Tür. Da sagte Markus: „Das wird die Großmutter sein! Sie hat wohl etwas vergessen.“ Matthias entgegnete aber: „Warte! Lass uns erst herausfinden, wer da ist!“ Er ging zur Tür und fragte, wer da sei. Ein Mann antwortete: „Verzeiht die Störung! Ich habe großen Hunger, darf ich um etwas zu essen bitten? Seid barmherzig.“

Da bekamen die Kinder Mitleid und ließen ihn hinein. Es stand da ein junger Mann mit wild zerzausten Haaren, der bloß Lumpen trug, die nur mit Not seinen schmutzigen Körper bedeckten. Matthias suchte nach Brot, fand aber einen blauen Topf mit Brei, worüber er sich sehr wunderte. Er sagte dies seinen Geschwistern und Markus sprach: „Ja, hat denn Großmutter vergessen, dass sie noch Brei hier hatte? Geben wir ihn aber dem armen Mann, denn Großmutter sagt doch immer, man solle anderen Gutes tun!“ Die anderen willigten ein und Sarah wärmte den Brei auf. Da fragte Matthias den Gast, wer er sei. „Wenn ich euch das sagen würde, würdet ihr mir nicht glauben!“ Da die Kinder aber so drängten, sprach er: „Nun gut, dann werde ich es euch sagen! Ich bin der Prinz und von meiner Stiefmutter, einer Hexe, verflucht worden, weil sie nicht akzeptiert, dass ich mich in jemanden vom niederen Stand verliebt habe!“ Da lachten die Kinder, weil sie es nicht glauben konnten. Doch der Mann machte ein trauriges Gesicht und sagte: „Ja, es will mir ja niemand glauben!“ Da erkannten die Kinder, dass er die Wahrheit sprach. Markus fragte: „Ja, aber wieso gehst du in solchen Lumpen herum, wenn du ein Prinz bist?“ „Das ist doch mein Fluch! Meine Stiefmutter sagte, niemand soll mehr erkennen, dass ich ein Prinz bin! Ich kann keine anderen Sachen tragen, weil sie mir gleich vom Leib fallen, nur diese Lumpen und Fetzen sind mir gestattet. Wenn ich mich wasche, so bekomme ich den Dreck nicht von meiner Haut. Und kämme ich mir die Haare, so sind sie wieder gleich zerzaust.“ Die Kinder wurden traurig und Matthias fragte: „Kann man denn nichts tun, um den Zauber aufzuheben?“ „Ich weiß nicht wie“, antwortete der Prinz, „das hat sie mir nicht verraten. Denn würde ich vom Fluch erlöst werden, würde sie ihre Macht verlieren. Als sie mich wegschickte, sagte sie mir, dass ich von nun an arm sein solle und nie wieder zurück in die Burg kommen dürfe. Ich bin nur froh, dass sie meine Liebe nicht entdeckt hat, die sich im Wald tief in einem engen Tälchen versteckte.“

Der Brei war nun warm und Sarah tischte ihn dem Prinzen auf. Doch als der einen Bissen gegessen hatte, wurde er auf einmal ein Hase. Die Kinder erschraken sehr und sie wussten nicht, wieso das geschehen war. Da sagte Markus: „Vielleicht hat das die böse Stiefmutter, die Königin, gemacht!“ „Mag sein, aber was können wir jetzt tun, um ihm zu helfen?“, fragte Sarah. Matthias sprach: „Gar nichts! Wir haben ja keine Zaubermacht!“ Da fiel ihm der Zwerg bei den Himbeersträuchern ein und er sagte: „Wir sollten zum Zwerg gehen, vielleicht weiß der, was wir machen können!“ Sarah erwiderte besorgt: „Aber der war doch so grob, der wird uns auch nicht helfen!“ „Wir müssen es versuchen, es gibt sonst keine andere Möglichkeit. Bleib du hier beim Hasen. Markus und ich gehen zu dem Zwerg!“, entgegnete er.

Die Brüder eilten zu den Himbeersträuchern, aber fanden den Zwerg nicht. Da sagte Matthias: „Lass uns die Sträucher der Reihe nach durchgehen und versuchen wir, Beeren zu pflücken. Wenn wir dann bei seiner Pflanze sind, wird er sich schon melden.“ Sie taten es und als Markus bei einem großen Strauch eine Beere pflücken wollte, sprang der Zwerg heraus und schrie zornig: „Halt! Was macht ihr Kinder schon wieder hier? Haut ab!“ „Nein, bitte! Wir brauchen deinen Rat! Bei uns ist ein Gast, der in einen Hasen verwandelt wurde, aber wir wissen nicht, wie wir ihm helfen können“, sagte Markus bittend. Da schmunzelte der Zwerg und fragte: „Hat er denn vom Brei im blauen Topf eurer Großmutter gegessen?“ „Ja, das hat er. Kennst du uns denn?“, sprach Markus. „Glaubt ihr, ich bin dumm? Ihr wisst es nicht, aber eure Großmutter kann hexen. Sie ist keine bösartige Zauberin, denn den Brei, den sie manchmal in der Nacht kocht, gibt sie den Bären des Waldes zu fressen, damit sie sich in harmlose Hasen verwandeln.“ Da waren die beiden sehr verwundert und Matthias fragte: „Kann sie ihn denn nicht zurückverwandeln?“ „Nein, das kann sie nicht, sie ist nicht sehr mächtig. Aber meine Himbeeren können jeden Zauber aufheben, wenn man sie isst. Die wären eurem Prinzen sehr nützlich, zumal er zweimal verzaubert ist. Isst er sie, ist er von beiden Flüchen erlöst. Aber wer eine meiner Himbeeren pflückt, muss für mich ein Jahr lang arbeiten, auch wenn ein anderer sie isst.“

Die Brüder zögerten, doch dann sagte Matthias: „Ich nehme eine Beere. Aber wann muss ich zu arbeiten beginnen?“ „Komm doch gleich mit mir mit, dann führe ich dich auf meine Äcker.“ „Ach, lieber Zwerg, kannst du nicht bis morgen warten?“, bat Matthias mit zarter Stimme. „Nun gut“, sagte der Zwerg scharf, „morgen um dieselbe Zeit kommst du hierher und wirst du zu arbeiten beginnen. Deine Großmutter kann da nichts dagegen tun.“ Matthias willigte ein, denn er dachte sich: „Morgen wird uns Mutter gleich am Vormittag wieder nach Hause bringen. So sind wir um diese Zeit daheim und der Zwerg kann mir nichts anhaben.“ Er pflückte eine Himbeere und sein Bruder und er liefen zum Häuschen zurück. Dort erzählten sie Sarah, was ihnen der Zwerg gesagt hatte. Matthias gab dem Hasen die Himbeere zu fressen und das Tier verwandelte sich in den Prinzen zurück.

Dieser wusch sich auf Rat der Kinder in dem Quellwasser vor dem Häuschen und er sah voll Freude, dass er den Schmutz von seiner Haut bekam. Er reinigte auch sein verdrecktes Gesicht und die Kinder sahen nun, welch ein schönes Antlitz er hatte. Er hätte sich gern ansehnliche Gewänder angezogen, aber da er keine mithatte, musste er noch die Lumpen anlassen. Er konnte sich jedoch die Haare kämmen und diese waren dann ganz schön und ordentlich. „Wie kann ich euch denn nur danken, meine lieben Freunde?“, fragte der Prinz voll Freude. „Das haben wir doch gern gemacht!“, antwortete Matthias. „Wisst ihr was? Ihr sollt mitsamt euren Eltern von mir mit Schmuck, edlen Gewändern und Gold fürstlich belohnt werden, wenn ich wieder in der Burg bin“, sagte der Prinz, aß ein Stück Brot und machte sich auf den Heimweg. Da er vom Fluch erlöst war, war nun auch die Macht der Königin gebrochen. Daher ließ er sie, als er wieder in die Burg kam, in den Kerker werfen.

Die Kinder stellten den Brei mit Zauberkraft aber wieder dorthin, wo sie ihn gefunden hatten. Bald kam auch die Großmutter zurück von ihrem Einkauf, aber niemand von den drei Geschwistern erzählte ihr etwas davon. Sie waren jedoch voller Übermut, was die Großmutter sehr verwunderte. Am nächsten Tag brachte die Mutter ihre drei Kinder wieder zurück nach Hause und keines von ihnen dachte an etwas Böses. Als sie am Nachmittag im Garten spielten, lief auf einmal ein weißes Pferd mit himbeerroter Mähne daher und begann Matthias zu belästigen. Der bekam Angst, weil er nicht wusste, was das sonderbare Tier von ihm wollte. Es versuchte stets, ihn auf den Rücken zu bekommen. Da rief Markus: „Matthias, das Pferd gehört dem Zwerg und der will dich zu seinen Äckern bringen lassen.“ Der Junge erschrak sehr und wusste in seiner Furcht nicht, was er tun sollte.

Markus und Sarah rannten aber zu ihrer Mutter, die im Haus arbeitete, und sie erzählten ihr von dem Pferd, das dem Zwerg gehörte. Sie verstand nicht, was die Kinder ihr erzählten, und sie ging in den Garten. Matthias war bereits auf den Rücken des Pferdes gezwungen worden, denn es hatte nicht nachgegeben, und das Tier ritt mit dem Jungen fort. Die Mutter schrie auf und eilte zum Vater, der sehr erschrak und ratlos dastand. Die Kinder erzählten aber vom Zwerg im Himbeerstrauch und was sie am Vortag erlebt hatten. Die Eltern eilten mit den beiden zur Großmutter, der sie das Vorgefallene erzählten. Sie sagte: „Ach Kinder, ich hätte den Hasen sehr wohl zurückverwandeln, aber nicht den Zauber der Königin aufheben können. Dass so ein Zwerg in unserer Gegend lebt, wusste ich, aber nicht, dass er so nah bei mir einen Strauch hat wachsen lassen! Auf, lasst uns zur Lichtung gehen!“

Sie gingen los und suchten den Himbeerstrauch des Zwergs, fanden ihn aber nicht. So sehr sie ihn auch suchten, sie sahen ihn nicht mehr. Die Großmutter sprach: „Dann hat er sich aus dem Staub gemacht! Aber ich lasse meine Bienen ausschwärmen, die den Acker des Zwergs suchen sollen. Dann erfahren wir, wie es ihm dort geht.“ Sie gebot es ihren Bienen und diese begannen zu suchen. Nach zwei Tagen kam eine zurück und meldete der Großmutter, wo sich der Acker befinde und dass Matthias sehr zu schuften habe. Die alte Frau sagte aber: „Leider habe ich nicht sehr viel Zaubermacht und kann ihn daher nicht befreien.“ Da war die ganze Familie sehr traurig und die Eltern und die beiden Geschwister kehrten in ihr Haus zurück. Es erschien dort aber plötzlich der Prinz mit allerlei Gold, Schmuck und Kleidern. Als er sich nach Matthias erkundigte, sagte Markus traurig: „Der kommt erst in einem Jahr wieder. Der muss für die Himbeere, die er für Euch gepflückt hat, auf den Äckern des Zwergs arbeiten.“ Der Prinz erschrak heftig und versprach der Familie, Matthias zurückzuholen. Sie sagten ihm, wo sich laut der Biene der Acker befinde.

Dann eilte er zu den Äckern des Zwergs, die von einer dichten Hecke von Himbeersträuchern umgeben waren, wie er es noch nie gesehen hatte. Da stand ein Wächter, der sehr groß war und schrie: „Halt! Geh weg von hier!“ Der Prinz wollte sich aber nicht abweisen lassen, doch der Wächter drohte ihm noch ärger. Da sagte der Prinz: „Weißt du denn nicht, mit wem du hier sprichst? Lass mich hinein oder ich lass dir den Kopf abhauen!“ Der Wächter wurde noch zorniger und brüllte: „Ja, du bist der Prinz! Aber auch du kommst hier nicht hinein! Mein Herr hat viel Zaubermacht, der kann dich in einem Augenblick vernichten!“ „Lass ihn mit mir reden!“, verlangte der Prinz. Dann ging der Wächter hinein und kam nach einer Weile mit dem Zwerg wieder. Dieser sagte: „Der Junge bleibt bei mir. Er hat die Beere gepflückt, also muss er für mich arbeiten!“ Der Prinz erwiderte: „Aber ich habe sie gegessen! Daher muss ich arbeiten! Lass ihn doch frei! Ich kann auch mehr zupacken als der Junge.“ „Du? Du bist doch bloß wenige Jahre älter als der Junge und dazu noch ein Prinz! Hast du denn jemals gearbeitet? Verschwinde von hier!“ „Dann lass einen Diener von mir hier arbeiten! Da hast du doch viel mehr davon“, bat der Prinz. Da willigte der Zwerg ein und sagte: „Ich lasse den Jungen frei, wenn du mir einen Diener bringst.“

Am nächsten Tag holte der Prinz einen willigen Diener und der Zwerg gab den Jungen heraus. Dann schloss der Zwerg den Eingang und der Wächter stellte sich wieder davor. Als der Prinz zum Pferd ging, sagte Matthias leise zu ihm: „Ich war in einem Acker voll mit Himbeersträuchern. Ich musste jeden Tag unzählige Beeren abpflücken, durfte aber keine von ihnen essen, da ich sonst gestorben wäre. Als der Zwerg jedoch zwischen den Sträuchern ein Nickerchen hielt, verriet er im Schlaf, dass niemand wissen dürfe, wie man seine Macht brechen könnte.“ Da wurde der Prinz neugierig und fragte: „Was kann ihm denn seine Macht nehmen?“ „Wenn man alle Himbeeren in seinem Reich aufessen würde, dann würde er seine ganze Macht verlieren. Das kann man aber nur, wenn man kein Gefangener von ihm ist, sonst würde man sterben.“ Der Prinz antwortete: „Dann können wir nichts tun.“ Beide setzten sich aufs Pferd und während des Heimweges erzählte der Prinz, dass eine Biene der Großmutter den Acker gefunden hatte.

Da fiel Matthias etwas ein und er bat den Prinzen, zur Großmutter zu reiten. Dieser tat es und als die alte Frau ihren Enkel sah, freute sie sich so sehr, dass sie vor Freude zu weinen begann und ihn umarmte. Matthias sagte aber: „Liebe Großmutter, kannst du denn keine Tiere in den Acker des Zwergs fliegen lassen, die seine Früchte fressen? Dadurch würde er besiegt werden.“ Da rief sie Vögel und Insekten herbei und schickte sie zum Acker des Zwergs. Diese fraßen alle Himbeeren auf, sowohl gepflückte als auch solche, die noch an den Sträuchern hingen. Der Zwerg versuchte sie aufzuhalten und traf einige Tiere mit seiner Zauberkraft, aber es war sinnlos. Nach kurzer Zeit waren alle Früchte weggefressen und der Zwerg verlor seine Macht. Die Hecke stürzte ein, der Wächter lief davon und der Diener des Prinzen konnte wieder in die Burg zurück. Die Familie war aber froh, dass sie ihren Matthias wieder zurückhatte, und lebte viele Jahre ohne Sorgen.

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