Es war einmal ein Zwerg, der hatte einen Schatz. Dadurch war er weit und breit bekannt. Eines Tages wurde er von einem Gewitter überrascht, als er im Wald ging. Da stürzte ein Baum um und ein großer Ast fiel vor den Zwerg, der vor einer Felswand im Gebüsch saß. Als das Gewitter vorüber war, wollte sich der Zwerg befreien, doch er konnte den großen Ast nicht verrücken. So rief er verzweifelt um Hilfe. Es vergingen zwei Stunden, da kam ein junger Mann daher und hörte die Hilfeschreie des Zwergs. Der Mann war kräftig genug, den Ast wegzuziehen, und befreite somit den Zwerg. Der fiel vor ihm auf die Knie und sagte: „Habt vielen Dank, werter Herr! Ich danke Euch vielmals!“ „Ich bin doch kein werter Herr, ein armer Arbeiter bin ich und lebe in einem erbärmlichen Häuschen.“ „Bald nicht mehr! Ich habe einen großen Schatz! Er wird für Menschen aber nur sichtbar, wenn der Vollmond der Erde ganz besonders nah ist. Das wird in fast zwei Monaten sein. In der Nacht sollt Ihr zu meiner Hütte neben dem Waldbach kommen, da wird er Euch erscheinen. Ihr könnt dann etwas von dem Schatz mitnehmen!“ Da bedankte sich der junge Mann und war frohen Mutes.
Der Zwerg war aber schon recht alt und konnte nicht mehr gut gehen. Daher stolperte er einige Tage später über einen Stein und sein langer Bart verfing sich in einem Brombeerstrauch. „Ach, das darf doch nicht wahr sein!“, schrie er. Die Stacheln des Brombeerstrauches ließen den Bart nicht los und der Zwerg rief nach Hilfe. Denn er hatte Angst vor den wilden Tieren. Nach einer Weile kam eine junge Frau. Sie erblickte den Zwerg und sah, dass sein Bart nicht mehr von den Stacheln loskam. „Soll ich dir helfen?“, fragte sie. Der Zwerg hatte vor Erschöpfung aufgehört zu rufen und als er die junge Frau hörte, war er sehr erfreut. „Oh ja, bitte hilf mir!“ Die Frau nahm eine Schere aus ihrer Schürzentasche und schnitt mit ihr den Bart ab. Er fiel vor ihr auf die Knie und sprach: „Ich danke Euch vielmals, wertes Fräulein!“ „Ich bin bloß eine arme Näherin!“ „Arm werdet Ihr nicht mehr lange sein. In nicht ganz zwei Monaten, wenn der Vollmond groß und hell leuchten wird, wird mein Schatz erscheinen. Vor meiner Hütte neben dem Waldbach, da in diese Richtung. Ihr dürft in jener Nacht etwas von meinem Schatz abhaben.“ Da freute sich die Näherin und ging ihres Weges.
Es verging ein Monat, da wanderte der Zwerg in das nächste Dorf. Zwei Räuber erblickten ihn und wollten ihn überfallen. Sie waren klug und wussten, dass der Zwerg einen großen Schatz besaß. So rannten sie auf ihn zu und nahmen ihn gefangen. „Du sagst uns jetzt, wo dein Schatz ist, oder wir werden dich prügeln.“ „Nein! Bitte lasst mich! Mein Schatz erscheint erst zum nächsten Vollmond!“ Doch die Räuber wollten nicht hören und der eine hielt schon seinen Knüppel in die Höhe. Da kam plötzlich ein alter Mann mit seinem Hund daher. Der Mann sah, dass der Zwerg in Not war, und hetzte seinen Hund auf die Räuber. Dieser lief auf die Verbrecher zu und sie rannten sofort davon. Der Zwerg kniete vor dem alten Mann nieder und sagte: „Habt zehntausendmal Dank, werter Herr!“ „Ich bin doch nur ein armer, alter Mann! Es war mir eine Freude, dir zu helfen!“ „Ich bin Euch Dank schuldig. Kommt zum nächsten Vollmond zu meinem Häuschen neben dem Waldbach in meinem Dorf. Da wird in der Nacht ein Schatz erscheinen. Ihr sollt etwas davon abhaben.“ Der alte Mann freute sich darüber und zog mit seinem Hund weiter. Als dann die besagte Nacht kam, gingen der junge Mann, die Frau und der alte Mann gleich bei Einbruch der Dunkelheit zum Häuschen des Zwergs. Sie grüßten ihn freundlich und er erwiderte ihren Gruß. „Gleich wird mein Schatz erscheinen. Es muss nur dunkel genug sein. Allein der Mond darf scheinen“, sprach der Zwerg. Der Mond verschwand immer wieder hinter Wolken und es wehte ein frischer Wind.
Plötzlich erschien eine große Schatztruhe vor dem Häuschen. „Nehmt euch etwas heraus. Aber zuerst soll ein jeder von euch daran denken, dass auch die anderen etwas vom Schatz haben wollen. Vergesst das nicht!“ Zuerst kam der junge Mann, dem der Zwerg zuerst etwas vom Schatz versprochen hatte. Er griff hinein und dachte sich: „Ich bin arm, arbeite viel und habe jede Menge Kummer. Eigentlich habe ich viel mehr Gold verdient. Daher nehme ich so viel, wie nur meine Hände tragen können.“ Gesagt, getan. Er hatte die Hände voll mit Gold und ging dankend nach Hause. Dann war die junge Frau an der Reihe, die sich dachte: „Ich habe es schwer genug im Leben. Wieso nehme ich nicht auch so viel, wie meine Hände nur tragen können? Oder ich fülle auch meine Schürzentasche mit Gold!“ Das tat sie auch und sie ging dankend weg. Dann dachte sich der alte Mann: „Ich habe es so schwer im Leben gehabt und auch heute habe ich viel Kummer. Daher verdiene ich es, den ganzen Rest zu nehmen. Alles, was meine Hände und meine große Tasche tragen können, soll mir gehören.“ Als er aber in die Truhe blickte, waren da nur mehr wenige Goldmünzen. „Da ist ja fast nichts mehr drinnen!“, schimpfte er. „Ja, weil die anderen so viel mitgenommen haben. Aber wenn du sagst, wie viele Münzen du noch gern hättest, dann kannst du sie bekommen. Nur der junge Mann und die Frau werden einige ihrer Münzen dann verlieren.“ „Gib mir so viel, wie meine Hände und meine große Tasche tragen können.“ Da waren dann auf einmal mehr Goldmünzen in der Truhe. Der alte Mann nahm sie heraus, bedankte sich und ging weg.
So viele Münzen er aber sich dazu gewünscht hatte, so viele hatten die beiden anderen zusammen verloren. Sie bemerkten schnell, dass sie auf einmal weniger Gold hatten, und wunderten sich sehr darüber. Aber sie wollten in der Finsternis nicht wieder zum Zwerg zurück, da es bereits schwer war, wieder aus dem Wald herauszufinden. Als es Morgen wurde, verschwanden plötzlich die gesammelten Münzen von den beiden Männern und der Frau. Sie waren sehr überrascht und erzürnt darüber. So gingen sie wieder zum Zwerg. Zuerst der junge Mann, dem der Zwerg erklärte: „Ihr hättet auch an die anderen denken sollen. Ich habe es euch ja gesagt. Bei Selbstsucht verschwinden die Goldmünzen wieder.“ Das erzählte der Zwerg auch den anderen beiden, als sie zu ihm kamen. Doch da er die drei nicht ganz leer ausgehen lassen wollte, schenkte er jedem ein paar Goldmünzen. So hatten sie zwar nicht so viel wie erwartet, aber immerhin doch etwas zum Dank bekommen.
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